In der gesundheitspolitischen Diskussion herrscht ungewohnte Einigkeit in der Diagnose des kränkelnden Gesundheitswesens. Demographische Verschiebungen, Fortschritte der Spitzenmedizin und falsch gesetzte ökonomische Anreize werden für die steigenden Kosten verantwortlich gemacht. Dementsprechend wird die Kur fast ausnahmslos in (gesundheits)ökonomischen Argumenten gesucht und gefunden. Die Implementierung von Marktmechanismen und der Einsatz neuer Technologien soll die Kostenspirale dämpfen.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen die Institutionen, auf welchen die Heilserwartungen ruhen. Es sind dies die virtuellen Arztpraxen, welche als telefonbasierte Form von Managed Care an den Schlüsselstellen des neu geschaffenen Marktes stehen. Am Material eines Call Centers wird das zugrunde liegende Handlungsproblem von Managed Care rekonstruiert. Es wird den Deutungen von Krankheit und Gesundheit nachgespürt und die Beziehungen der hypokratischen Kräfte – Krankheit, Kranker und Arzt – unter den Bedingungen einer Ökonomisierung der Professionslogik diskutiert.
Als herausragendes Resultat kann betont werden, dass das Handlungsproblem grundsätzlich verschoben wird. Indem Krankheit und Therapie entgegen ihrer Struktur als Güter bewertet werden, entsteht tatsächlich ein Wettbewerb, wenn auch mit anderen „Gütern“ und unerwünschten Folgen. Das Problem verschiebt sich von der Krankheit auf die Gesundheit. Im Zielfokus steht nicht mehr der in seiner Autonomie und Integrität eingeschränkte Patient, sondern der Versicherte mit der höchsten Profitabilität, dem kleinsten Krankheitsrisiko und der grosszügigsten Versicherung. Dieser Markt hat schwerwiegende institutionelle Änderungen für alle Akteure zur Folge. Entgegen dem beschönigenden Diskurs des empowerten und informierten Patienten wird die Patientenautonomie abgeschafft und der Versicherte wird zum handelbaren Produktionsmittel der Versicherer. Folglich obliegt die Definitionsmacht, wann der Kranke zum Patienten wird, nicht dem Betroffenen, sondern dem Gate Keeper. Dieser ist meist nicht mehr ein professionalisierter Arzt, sondern ein unprofessionalisierter Case oder Disease Manager, welcher aufgrund softwarebasierter, bürokratisch-routinisierter Direktiven entscheidet.
Der neue „unternehmerische“ Arzt – faktisch ein Angestellter der Versicherungskonglomerate – wird zum exekutiven Organ des bürokratisch-kommerziellen Apparates. Damit wird nebst der Patienten- auch die Professionsautonomie der Ärzteschaft abgeschafft, was eine grundlegende Änderung der ärztlichen Tätigkeit nach sich zieht. Diese ist nicht mehr die fallspezifische, stellvertretende Krisenbewältigung, sondern reduziert sich zu einer warenförmig standardisierten Dienstleistung. Die Versicherungskonzerne werden zu kommerziellen Bürokratien. Nicht mehr der Versicherungsgedanke der Risikonivellierung steht im Zentrum. Die Krankenversicherer werden zu Kapital akkumulierenden Konzernen, die sich primär im Wettbewerb mit börsenkotierten Unternehmen sehen und dementsprechend den Kapitaleignern verpflichtet sind. Abzusehen ist, dass Managed Care das Versprechen der Kostensenkung nicht einzulösen vermag, sondern im Gegenteil die Kosten steigert. Dies anzuerkennen, liegt jedoch ausserhalb der zirkulären Argumentationen des gesundheitsökonomisch dominierten Diskurses. Stattdessen wird beharrlich die Quadratur des Kreises propagiert: die Kostensteigerungen werden nicht dem Markt angelastet, sondern mit einem zuwenig an Markt begründet.
Faktisch wird mit Managed Care das gesellschaftliche Subsystem von Medizin, welches den vergemeinschafteten Beziehungen zwischen ganzen Personen zuzuordnen ist, in die Sphäre der Gesellschaft überführt, in welcher die Sozialbeziehungen auf rollenförmige Tauschtransaktionen reduziert sind. Folge davon ist, dass somit ein entscheidender Bereich von demokratischer Gesellschaft, nämlich die selbsttätige Bearbeitung von normativen Deutungs- und Geltungsfragen, den gemeinwohlgebundenen Professionen entzogen und kommerziellen Bürokratien überantwortet wird.