Forschung und Lehre als Kooperation

Interview mit Claudia Honegger, em. Soziologieprofessorin an der Universität Bern

Frau Honegger, Sie hatten von 1990 bis 2009 den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Bern inne und haben dort mit Ihrer Forschung und Lehre eine ganze Generation von Soziologinnen und Soziologen geprägt. Wie schätzen Sie Ihr Engagement als Hochschuldozierende rückblickend ein?
Wichtig war es mir zunächst, verschiedene Stile und Theorieansätze zu berücksichtigen, nicht einseitig auf die eine wissenschaftliche Schule oder den einen wissenschaftlichen Ansatz zu setzen. Meine Studierenden waren zudem angehalten, sich möglichst früh im Studium ein eigenes Thema zu suchen, eine Leidenschaft zu entwickeln für die eigene Fragestellung. Nicht zuletzt um diesen persönlichen Bezug zum wissenschaftlichen Gegenstand zu sichern, waren interdisziplinäre Herangehensweisen willkommen. Entsprechend grosse Bedeutung hatte das Nebenfach für das soziologische Studium: Es macht einen Unterschied, ob ein Student mit Geschichte oder mit Jurisprudenz als Nebenfach im Rücken an eine soziologische Arbeit geht. Ich meine also keine von oben verordnete Interdisziplinarität, sondern vielmehr die Pflege einer soliden methodischen und theoretischen Basis, die vielfältig inspirierte Perspektiven auf die Soziologie ermöglicht.

Der persönliche Bezug kann die Gefahr fehlender Distanz zum wissenschaftlichen Gegenstand bergen.
Ja, natürlich. Die moralisierende Vereinnahmung eines Themas muss vermieden werden. In Anlehnung an Max Webers Schriften zur Wissenschaftslehre und seine Ausführungen zu den Wertbeziehungen ist aber auch klar, dass es eine wertfreie Wissenschaft kaum gibt. Nur schon die Auswahl eines Themas ist persönlich bzw. biographisch geprägt. Alles andere wäre meines Erachtens auch falsch. Wissenschaftliches Arbeiten muss eine Verwurzelung im Persönlichen haben. Auch die Politik spielt stets mit hinein. Umso wichtiger war es mir, die historische Perspektive zu pflegen und die Fragestellungen unseres Fachs – durchaus selbstkritisch – im entsprechenden historischen Kontext zu verorten.

Würden Sie Ihre Jahre als Professorin in Bern mit der Ausübung eines «Berufs» bezeichnen?
Ja, durchaus. Wir waren allerdings privilegiert. Zu Beginn der 1990er Jahre, das muss man sich vergegenwärtigen, herrschte Aufbruchsstimmung, und es war Geld vorhanden. Das soziologische Institut konnte sich sowohl materiell als auch personell auf eine solide Basis stützen. Sicherheit – nicht Knebelung, wie sie eine Mehrheit des akademischen Personals heute aufgrund fehlender Ressourcen empfindet – prägte unsere Arbeit. Vor diesem Hintergrund gediehen Leidenschaften für gewisse Themen, und davon liessen sich die Studierenden begeistern. Die Beziehung zu den Assistentinnen und Assistenten war von wechselseitiger Anerkennung geprägt – anders ist eine gute Zusammenarbeit meiner Meinung nach gar nicht machbar. Überhaupt erachte ich die Kooperation mit und unter den Assistierenden als wichtigsten Erfolgsfaktor für Forschung und Lehre an einem wissenschaftlichen Institut. Meine liebsten Erinnerungen gelten dem Team, das wir am soziologischen Institut in Bern hatten: Der fachliche Austausch funktionierte grossartig, die Stimmung war freundschaftlich und anregend, wir entwickelten gemeinsam Fragestellungen, ergänzten uns und trieben jeden Einzelnen in seinem Thema zu Höchstleistungen an. Bei allen Arbeiten musste die historische Perspektive jeweils mitbedacht werden, das war mir wie gesagt wichtig. Und ja, anständig schreiben mussten auch alle – klar und ohne allzu viel Jargon. Wir hatten zudem eine sehr schöne Kolloquiumskultur – nicht, um möglichst viele ECTS-Punkte zu sammeln, sondern um spannende Referentinnen und Wissenschaftler einzuladen. Das Geld dazu war da. Selbstverständlich war dieses intellektuelle Klima nicht frei von Konkurrenz, auch nicht innerhalb des Teams, aber es war kein destruktives, humorloses Gegeneinander. Das Kollektiv, das gemeinsame Denken, Lehren, Lernen und Forschen, war für mich zentral. Vielleicht habe ich auch deshalb nach meiner Emeritierung alle Angebote für einzelne Lehraufträge abgelehnt. Irgendwo hinzufahren für ein paar Vorträge, ohne dann die einzelnen Studierenden auf ihrem akademischen Weg begleiten zu können – das reizt mich nicht.

Wie ist es Ihrer Ansicht nach zurzeit um die Freiheit der Forschung und die Unabhängigkeit der Lehre bestellt?
Vorausschicken muss ich, dass ich nicht glaube, dass es früher stets besser war als heute – gerade auch im Hinblick auf die Kooperation zwischen Mittelbau und Professorenschaft. Im Paris der 1970er Jahre bei Pierre Bourdieu habe ich mitbekommen, wie hierarchisch Wissenschaft strukturiert sein kann. Sicher ist aber heute die Bürokratie grösser und lähmender geworden. Macht wird beispielsweise aufgrund des Publikationsdrucks bei wissenschaftlichen Zeitschriften mit peer review akkumuliert. Sodann sind an den Universitäten gerontokratische Tendenzen insofern zu beobachten, als die etablierten Strukturen den Nachwuchs nicht nach inhaltlichen Qualitätskriterien beurteilen und auswählen. Dies, weil man solche Kriterien zu formulieren nicht mehr im Stande ist oder weil man sich auf solche Kriterien über die Disziplinen und Schulen hinweg nicht mehr einigen kann. Stattdessen wird auf quantifizierende Pseudoobjektivität wie einen citation index zurückgegriffen. Um nochmals auf Max Weber zurückzukommen: Wissenschaft als Beruf benötigt Geld, Macht und Leidenschaft. Geld schützt im besten Sinne vor ökonomischer Abhängigkeit. Der Zugang zu den finanziellen Mitteln ist heute stark hierarchisch geprägt. Wie oft musste ich beim Nationalfonds gewissermassen schummeln und wissenschaftliche Projekte von Assistentinnen als meine eigenen Themen verkaufen, damit wir zu Geld kamen! Ebenso virulent bleibt zudem die alte Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften – sie raubt viel Energie und lässt die Fragestellungen immer enger werden. Der favorisierte naturwissenschaftliche Zugang verspricht scheinbar bessere Quantifizier- und Objektivierbarkeit. Mit Macht werden die Strukturen gefestigt, es wird integriert oder ausgeschlossen – früher unter anderem Frauen, Juden oder Katholiken; heute läuft dies subtiler über Seilschaften. Ein Beispiel dafür ist der Umstand, dass in der Philosophie nur noch Analytiker das Sagen haben. Leidenschaft schliesslich muss Forschung und Lehre anleiten – damals und heute.

Den Druck, angewandt und nützlich sein zu müssen, kennt also auch die Soziologie?
Das liegt am Zeitgeist. Irgendwann wurden auch bei uns sogenannte Studierenden-Evaluationen eingeführt, und im entsprechenden Fragebogen figurierte stets die Frage: «Was nützt mir das für die Praxis?» Da stand dann immer: «Eher wenig».

Könnten Sie heute junge Menschen noch für das akademische Abenteuer begeistern bzw. ihnen zu einer akademischen Laufbahn raten?
Ich habe nie jemanden zu einer akademischen Karriere zu überreden versucht. Die wissenschaftliche Laufbahn ist und bleibt ein Hasard. Allenfalls habe ich zum Weitermachen im Studium oder zu einer Doktorarbeit ermuntert.

Das Interview führte Elisabeth Ehrensperger.

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