Valeria Kunz (2008): Vom Bergler zum Greenkeeper? Strukturelle Umbrüche in Andermatt.

Das Schweizerische Berggebiet war bislang dank seiner zentralen kulturellen Bedeutung für die nationale Identität und seiner verhältnismässig starken politischen Vertretung noch relativ gut vor den Herausforderungen des globalen Marktes abgeschirmt. Doch unterdessen hat das Primat der wirtschaftlichen Wertschöpfung auch die abgelegensten Bergtäler erreicht und in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Zukunft des Schweizerischen Alpenraums mehren sich die Stimmen, welche wirtschaftlich eigenständig nicht überlebensfähigen Bergregionen bestenfalls eine Daseinsberechtigung als Ergänzungs- und Erholungsraum für StädterInnen und TouristInnen zugestehen. Touristische Grossprojekte und ambitionierte Pläne für neue Erschliessungsanlagen in den Alpen haben gegenwärtig entsprechend Hochkonjunktur und stossen auf eine breitere Akzeptanz als noch vor wenigen Jahren.

Das Luxus-Ferienresort, welches der ägyptische Milliardär und Tourismus-Investor Samih Sawiris in Andermatt, Kanton Uri, plant, ist ein Paradebeispiel für diese Entwicklung. Einst ein wichtiger Ferien-, Kur- und Handelsort und auf Grund seiner Lage an der „Alpenfestung“ am Gotthard von zentraler militärischer Bedeutung, fliesst der Reiseverkehr in den Süden seit dem 1980 eröffneten Gotthard-Strassentunnel an Andermatt vorbei, mit der Armeereform zieht sich das Militär, einer der Hauptarbeitgeber in der Region, zurück und bei der touristischen Infrastruktur besteht heute ein immenser Investitionsbedarf. Entsprechend stiess Sawiris’ Vorhaben zum Bau eines touristischen Grossprojektes in Andermatt bei den politischen Entscheidungstragenden auf allen Ebenen auf grosse Unterstützung und entsprechend rasch und unkompliziert wurde die Planung vorangetrieben. Ob die Bereitschaft der politischen Behörden, die Zukunft eines ganzen Alpentals in die Hände eines einzigen ausländischen Grossinvestors zu legen, der seine Entscheidungen im fernen Ägypten trifft, eher als Verzweiflungsakt aus der eigenen Konzeptlosigkeit angesichts der Herausforderungen der Globalisierung oder als Ausdruck weitsichtiger Offenheit gegenüber Veränderungsimpulsen von Aussen zu bewerten ist, wird die zukünftige Entwicklung im Urserntal zeigen. Die vom umfangreichen Landbedarf betroffenen Bauernfamilien im Urserntal stellte das touristische Grossprojekt aber bereits in seiner Planungsphase vor ein tiefgreifendes Entscheidungs- und Handlungsproblem. Sie sahen sich mit der Entscheidung konfrontiert, entweder ihr ertragreichstes Land im Talboden für den Bau des Golfplatzes herzugeben und dem Vorhaben damit zum Durchbruch zu verhelfen oder auf dem Land als Grundlage ihrer bäuerlichen Existenz zu beharren und damit zu riskieren, als Verhinderer einer aussichtsreichen Zukunftschance diffamiert zu werden. Dieses für die Bauernfamilien existentielle Entscheidungsproblem bildete den Ausgangspunkt der Untersuchung. Das dahinter liegende Forschungsinteresse beruhte auf der Annahme, dass dabei für die Ursener Bauernfamilien mehr auf dem Spiel stand, als die Frage, ob sie ihr Land für den Bau eines Golfplatzes hergeben würden oder nicht: Die Planung des Tourismusprojekts konfrontierte sie mit dem grundsätzlichen Legitimitätsproblem ihrer Stellung als Bergbauern und Bergbäuerinnen angesichts eines gesellschaftlichen Strukturwandels, der in erster Linie dem Kriterium der wirtschaftlichen Wertschöpfung folgt. Im Grunde ging es also um ihre Daseinsberechtigung als in einer globalisierten Welt, die mit dem ägyptischen Investor Samih Sawiris auch das Urserntal inmitten der Schweizer Alpen erreicht hat. Wie sich die Bauernfamilien in dieser schwierigen Situation entscheiden, lässt daher, so wurde angenommen, Rückschlüsse auf die spezifischen Identitätskonzepte und Deutungsmuster dieser paradigmatisch im Spannungsfeld struktureller Umbrüche stehenden Menschen zu. Anhand der objektiv hermeneutischen Analyse zweier Interviews wurden die gegensätzlichen Argumentationsweisen zweier Andermatter Bergbauern einander gegenübergestellt: Auf der einen Seite Tony, der sich entschieden hat, Land und Hof in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für das Tal zu opfern, den seither aber Ängste um den „Ausverkauf der Heimat“ als Grundlage seiner Identität plagen und auf der anderen Seite Emil, der sich von Samih Sawiris’ schillernder Zukunftsvision hat überzeugen lassen und der nun mit allen Mitteln versucht, am erwarteten Erfolg und dem Lebensstil der „Gewinner“ teilzuhaben. Mit der tiefgehenden Analyse dieser beiden kontrastierenden Fälle wird die Breite des Spektrums möglicher Deutungs- und Umgangsweisen mit dem selben Entscheidungsproblem aufgezeigt und zugleich für eine differenziertere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen im Bezug auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen plädiert. Erst mit einer solchen Herangehensweise lässt sich letztlich beurteilen, ob bei der Planung des Tourismusprojekts wirklich keine Verlierer auf der Strecke bleiben und wie hoch entsprechend die Realisierungschancen für eine lokal getragene „nachhaltige“ Entwicklung im Urserntal mit dem Tourismusprojekt sind.

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